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«Wenn die Sprache hinterher hinkt.»

10.06.2020

Professor Dr. Reto Eugster ist Spezialist für Konflikttheorie und Konfliktvermittlung. Im Gespräch mit Beda Meier, Direktor der Valida, erklärt er, weshalb es dauert, bis aus sozialen Institutionen in Gedanken und Worten tatsächliche Unternehmen werden.

2013 hat der Gesetzgeber die Basis für die finanzielle Unterstützung der Organisationen
geändert, die Dienstleistungen im Behindertenbereich erbringen. Die gesamte Finanzierung wurde auf eine neue Basis gestellt. Anstelle der früheren Defizitgarantie sind Leistungsvereinbarungen mit fixen Beiträgen getreten. Das hat dazu geführt, dass im Alltag der Valida betriebswirtschaftliche Fragen eine neue Bedeutung erhalten haben. Damit hat sich
auch der Charakter der Organisation verändert. Und mit ihm ihre Bezeichnung.

BEDA MEIER

Früher war die Valida eine Organisation mit einer grossen Nähe zum Staat. Dieser hat das Budget kontrolliert und bewilligt, ein allfälliges Defizit ausgeglichen und auch die notwendigen Investitionen à fonds perdu finanziert. Heute müssen wir uns wie ein KMU verhalten, ein Unternehmen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reden aber nach wie vor von der Institution. Der Wechsel auf finanztechnischer Ebene, der aus Institutionen Unternehmen gemacht hatte, hat offenbar noch nicht überall den Weg ins Bewusstsein und in die Alltagssprache gefunden.

RETO EUGSTER
Dahinter verbirgt sich die Skepsis gegenüber einer Ökonomisierung Sozialer Arbeit. Organisationen wie die Valida unterliegen drei Steuerungslogiken. Die betriebswirtschaftliche Logik orientiert sich beispielsweise an Marktchancen, Effizenzkritieren oder Opportunitätsrisiken. Die zweite Logik ist sozialpolitisch motiviert. Hier muss sich die Valida politisch legitimieren. Fachliche Standards bringt drittens die Professionslogik ins Spiel. In diesem Dreieck ergeben sich typische Spannungsverhältnisse. Da die Valida ein gewichtiger Akteuer des Sozialwesens ist, kommen auch diese «Spannungsfelder» deutlich zum Vorschein. Mit der neuen Gesetzgebung haben sich die Gewichte in diesem Dreieck verschoben. Die unternehmerische Perspektive hat an Bedeutung gewonnen, zulasten der anderen zwei. Paradoxerweise ist die unternehmerische Perspektive allerdings politisch «verordnet».

BEDA MEIER
Die Gewichtsverschiebung ist für mich unbestritten. Es geht auch nicht um richtig oder falsch. Für das Unternehmen stellt sich vielmehr die Frage, wie wir es fertig bringen, dass die unterschiedlichen Logiken zusammenspielen.

RETO EUGSTER
Ja, das ist genau der Punkt. Die Valida hat eine Geschichte als «soziale Institution», wie es früher hiess. Solche Organisationen waren als Inseln konzipiert, als «Sonderzonen», als «Schutzräume». Mehr und mehr setzte sich jedoch, auch fachlich motiviert, die Perspektive durch, dass Organisationen wie die Valida ihre Ziele dann am besten erfüllen, wenn sie nicht primär Sonderverhältnisse schaffen, sondern neue Normalitäten ermöglichen. Normalitäten, die Chancen für Menschen unter erschwerten Bedingungen bieten. Im Zuge dieser Entwicklung
musste und muss sich die Valida verändern. Auch dadurch hat es Verschiebungen im Spannungsdreieck Ökonomie, Politik, Profession gegeben. Das ist eine Entwicklung, die übrigens die unterschiedlichen Organisationen des Sozialwesens betrifft. Die Valida ist in guter Gesellschaft. Nicht nur die Valida muss sich ständig dreifach erfinden und ständig mehrfach begründen: als Unternehmen, als sozialpolitischer und fachlicher Akteur.

BEDA MEIER
Sie beschreiben einen Aspekt, der uns auch im Alltag in der Valida beschäftigt: die Gleichzeitigkeit von scheinbar Widersprüchlichem. So sprechen wir in unseren Produktions- und Dienstleistungsbetrieben von zwei Aufgaben, zwei gleichzeitigen Prozessen:
Dem Teilhabeprozess und dem Produktionsprozess. Jetzt stellt sich die Aufgabe, die beiden Positionen so zu verbinden, dass positive Lösungen und eine gemeinsamen Alltagshaltung
entstehen.

RETO EUGSTER
Dem Modell liegt die Unterstellung zugrunde, dass diejenige Einrichtung ihren Auftrag am besten erfüllt, die diese Widersprüche nicht nur aushält, sondern zu nutzen versteht. Weder ein bloss unternehmerisches Agieren noch pures sozialpolitisches Legitimationshandeln oder die ausschliessliche Darstellung als Expertiseträger führen zur Erfüllung der Aufträge. Vielleicht lässt sich sagen: Es geht um einen Tanz, der auf unterschiedlichen Bühnen getanzt werden muss. Führung bedeutet hier, kreativ zu sein. Dabei sind die beschriebenen Spannungsverhältnisse kein Sonderfall, sondern Normalfall. Wer sie eliminieren will, hat die Pointe nicht verstanden. Sie sind dem Auftrag eingebrannt und der konstruktive Umgang mit Ihnen macht aus Unternehmungen soziale Unternehmen, in einem mehrfachen Sinn.

BEDA MEIER
Seit 2015 nennen wir die Valida offiziell ‹Das soziale Unternehmen›. Die Bezeichnung verbindet die sozialpolitische mit der betriebswirtschaftlichen Ebene. Aber geläufig ist im Alltag nach wie vor die Bezeichnung ‹Institution›. Die Sprache scheint der Realität hinterher zu hinken.

RETO EUGSTER
Das sehe ich auch so, ja. Zu tief sind diese Narrative in den Alltag diffundiert. Sie prägen die öffentlichen Debatten nach wie vor. Historisch betrachtet, wurden diese Einrichtungen als «allzuständige Kümmerinstanzen» geschaffen. Menschen wohnten und arbeiteten an diesen Orten. Auch die Freizeit war institutionell geregelt und an Sonderkontexte gebunden. Letztlich ist dies einem klinischen Verständnis von Unterstützung geschuldet. Nun aber geht es um die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe- und Teilnahmechancen, und zwar unter den Bedingungen einer moderner Gesellschaft. Diese Chancen werden forciert, wenn Arbeit und Wohnen prinzipiell trennbar sind, wenn Arbeit und Freizeit in unterschiedlichen Welten stattfinden können. Heutzutage arbeitet jemand vielleicht in einem Partnerunternehmen
der Valida, schläft jedoch in einer begleiteten Wohngemeinschaft und verbringt seine Freizeit
teilweise in einem Sportclub. Wer in der Valida arbeitet, ist nicht mehr Vollmitglied einer «Institution», ist nicht mehr «Insasse». Genau das nicht. Das frühere klinische Verständnis ist obsolet geworden. Aus Sicht der Menschen mit einem Unterstützungsbedarf ist das fürs Erste ein emanzipatorischer Effekt: Sie werden zu Akteuren. Sie erbringen auch dort Leistung, wo sie
Leistung empfangen: indem sie mitgestalten können – und im Zweifelsfall auch müssen.

BEDA MEIER
Oder anders gesagt: Sie werden von passiven Objekten zu aktiven Subjekten?

RETO EUGSTER
Ja, das sehe ich als Ziel. Oder die Frage gewendet. Wenn ich bei der Valida in der Werkstatt arbeite und eine IV-Rente beziehe: Inwiefern und inwieweit bin ich Ko-Leistungserbringer, wo werde ich zum Klienten?

BEDA MEIER
Jemand, der in der Valida zum Beispiel in der Printmedien-Verarbeitung angestellt ist, ist im Grund genommen ein Arbeitnehmer. Er oder sie hat einen Lohn und einen Arbeitsvertrag gemäss OR. Das steht im Vordergrund. Dazu kommt aber der Aspekt, dass die Person bei der
Arbeit im Sinne unseres Entwicklungsund Unterstützungsauftrags agogisch begleitet werden muss, um beispielsweise ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit trotz Beeinträchtigung aufrecht zu erhalten, oder um eine Krise zu bewältigen. Sie sind dann in der Rolle der Leistungsempfänger
bzw. der Klienten.

RETO EUGSTER
Wobei die Begriffe Leistungsempfänger und Klient wiederum Unterschiedliches assoziieren lassen. Prozesse der Klientwerdung werden in der Fachliteratur als Klientifizierung beschrieben. Diese Prozesse sind riskant. Sie führen im ungünstigen Fall zu einer «Problementeignung»: Als «Klient» kann ich zur Einschätzung kommen, es würden zwar mir zugerechnete Probleme gelöst, aber eben nicht «meine». Es macht einen Unterschied – um ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen zu bemühen – ob sie ein gesundheitliches oder ein
medizinisches Problem haben. Im ersten Fall erleben sie eine gesundheitliche
Einschränkung, im zweiten ein Medizinsystem, das sie als «Patientengut» problematisiert. Die konzeptionelle Idee, von Leistungsbezügern und Leistungsempfängern auszugehen, ist vor diesem Hintergrund attraktiv. Hier sehe ich ein beachtliches Innovationspotenzial.
Beide Kategorien verabschieden sich von den totalisierenden Begriffen «Institution» und «Klient».

BEDA MEIER
Diese Begriffsverschiebungen sind mehr als Kosmetik. Hier sehen wir eine Chance. Es ist und bleibt aber eine Gratwanderung für uns als soziales Unternehmen.

RETO EUGSTER
Das wird so bleiben. Um die Risiken zu verstehen, die Klientifizierungsprozesse mit sich bringen, reicht oft ein Blick in die Berichte, die in Betreuungskontexten entstehen. Diese sind für Betroffene oft weder in ihrer wirklichkeitsgenerierenden Kraft noch in ihrer Wirkung auf ihre «Klientenkarriere» einschätzbar.

BEDA MEIER
Zurück zur Sprache: Wie überwinden wir das Bild von der Valida als Institution und geschützter Werkstatt?

RETO EUGSTER
Das ist die Kernfrage – vor allem aber: Das bleibt die Herauforderung. Es ist wichtig, aufzuzeigen, was die Chancen ihres konzeptionellen Ansatzes sind. Auf der einen Seite ist das die «institutionelle Vollinklusion» mit ihren Klientifizierungsrisiken. Auf der anderen
Seite gibt es relative Wahlmöglichkeiten: Ein Akteur, der nicht mehr «nur» Klient ist, sondern als Leistungserbringer und -bezüger Regisseur in seinen Lebenswelten. Nun wird vielleicht die Teilnahme am Quartierleben wichtig, die Arbeitsstelle bei der Valida, die Wohnvermittlung, die Peer Group im Sportverein usw. Valida spielt eine wichtige Rolle, nach wie vor. Aber Menschen mit Unterstützungsbedarf hinterfragen, wählen, verändern mit. Die Valida bleibt Akteur, aber sie ist nicht mehr die für alles zuständige «Kümmerinstanz», die Betreuungsanlässe totalisiert.
Nun wählt jemand die Valida vielleicht nur noch als Arbeitgeber oder um möglichst selbständig und doch begleitet zu wohnen. Die Einführung der Optionen allein wirkt emanzipatorisch.
Was sich früher im Sozialwesen als umfassende Betreuung ausgeflaggt hat, wurde von den Betroffenen zu oft als Zugriffsanlass und Kontrollhandeln erlebt. Dieser Valida-Weg führt zu einem Bruch mit Traditionen, die, entgegen allen Annahmen und Hoffnungen, nicht umstandslos zu überwinden sind. Vor Jahren schon hat mir ein Fachkollege geraten: Werde
zum Gastgeber, der nicht Klienten, sondern Gäste begrüsst, bewirtet und auch
wieder verabschiedet.