Von der Handweberei zum sozialen Unternehmen

1919 erhielt der Kanton St.Gallen sein erstes Gesetz über das Lehrlingswesen. Bei der Erarbeitung des Gesetzes stellte sich auch die Frage, was mit den jungen Leuten mit verminderter Leistungsfähigkeit geschehen sollte. Nachdem 1920 die Schweizerische Vereinigung für Anormale – die späteren Pro Infirmis – gegründet worden war, entstand innerhalb der Gemeinnützigen- und Hilfs-Gesellschaft der Stadt St.Gallen GHG die «Kommission für die Beschäftigung Anormaler», die mit den «Anormalen» eine Teppichflechterei führte, sowie Rücksäcke und dergleichen herstellte. Aus dieser GHG-Kommission entstand mit Gründungsdatum vom 3. Oktober 1929 der «Verein St.Galler Werkstätten für Mindererwerbsfähige».
Der neue Verein nahm schon am 1. November 1929 an der Lehnstrasse 45 in St.Gallen-Bruggen in einer ehemaligen Stickereiliegenschaft und in enger Zusammenarbeit mit der Basler Webstube mit «13 Knaben an den Handweb-Arbeitsplätzen» den Betrieb auf. Im ehemaligen Pfarrhaus St.Laurenzen wurde zudem eine Mädchenabteilung geführt. Die Mädchen erledigten in der nahen Frauenarbeitsschule Näharbeiten und genossen eine Basisausbildung in Hausarbeit, Deutsch und Turnen.
Die ersten zehn Jahre
Die «Werkstätten für Mindererwerbsfähige» wollte den Organisationen der Blinden keine Konkurrenz machen, weshalb sich der Verein auf die Produktion konzentrierte und den Vertrieb den Blinden überliess. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde die Produktion stetig ausgebaut. Zur Webstube kamen Schritt für Schritt eine Holzbearbeitungsabteilung, eine Mattenflechterei, eine Abteilung zur «Verlesung von Heilkräutern», eine Abteilung für Haus- und Gartenarbeiten sowie ein grosser Heimgarten hinzu. Bereits 1930 wurde eine erste Internatsabteilung mit zehn Plätzen und der Betreuung «rund um die Uhr» eröffnet. Dass die St.Galler Werkstätten für Mindererwerbsfähige einem Bedürfnis entsprachen, zeigt die Entwicklung der ersten zehn Jahre: Schon 1932 wurden 24 Beschäftigte registriert, 1939 bereits deren 40.
Stagnation während Weltkrieg
Das grösste Problem der Werkstätten war die Finanzierung. Noch gab es keine Invalidenversicherung und die jährlichen Defizite mussten mit Spendenaktionen ausgeglichen werden. Die Mitgliederbeiträge (1 Franken für Private, 20 Franken für Kollektivmitglieder) deckten nur rund 10 Prozent der Ausgaben, das Kostgeld der «Zöglinge» nochmals etwa 15 Prozent. Für den Kauf von Maschinen wurden Bettelbriefe verschickt. In den grösseren Gemeinden des Kantons St.Gallen sammelten Vertrauenspersonen freiwillige Beiträge, die im sogenannten «Milchbüchlein» notiert wurden. Während der Kriegsjahre stagnierte der Umsatz der «Werkstätten für Mindererwerbsfähige» bei rund 130‘000 Franken.
Zweimal den Namen geändert
1950 ändert der Verein seinen Namen in «ANORMA, Verein St.Galler Werkstätten für Teilerwerbsfähige». Unter diesem Namen – der heute wohl nicht mehrheitsfähig wäre – wirkte die heutige Valida bis Mitte der 60er Jahre. Diese Jahre waren geprägt von diversen kleineren Aus- und Umbauten, der Vergrösserung des Internats sowie vom steten Kampf um Anerkennung und Kundenaufträge. «Kunden wollen Qualität und schönes Design, kaufen nicht aus Wohltätigkeit», heisst es dazu im Jahresbericht 1954 lapidar.
Nachdem 1960 auf Bundesebene die Invalidenversicherung eingeführt worden war, sahen sich die Verantwortlichen der Anorma 1964 «schweren Herzens» gezwungen, den bisherigen Namen durch «INVALIDA, Lehr- und Arbeitswerkstätte für Behinderte» zu ersetzen. Die damalige Begründung: «Ausschluss jeder diskriminierend erscheinenden Ausstrahlung mit Rücksicht auf Zöglinge und Lehrpersonal, Ausdruck der Zusammenarbeit mit der eidg. Invalidenversicherung, Anpassung an den erweiterten Aufgabenkreis durch die Schaffung einer Abklärungs- und Lehrwerkstätte für die Eingliederung jugendlicher Invalider.»
Eingliederung statt Beschäftigung
Schon in den Gründungsstatuten der heutigen Valida ist als eine der Zielsetzungen festgehalten: «Unterbringung angelernter Mindererwerbsfähiger in anderweitigen Betrieben, mit Hilfe der Organe der öffentlichen und privaten Mindererwerbsfähigenhilfe». Die Eingliederung der Zöglinge in den ersten Arbeitsmarkt gelang aber nur in wenigen Fällen. Erst mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung erhielt diese Zielsetzung Rückenwind. Ab 1963 wurden die Jugendlichen in Zusammenarbeit mit der IV auf ihre Eingliederungsfähigkeit geprüft und im besten Fall nach Absolvierung einer ein- bis zweijährigen Ausbildung in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt. 1967 plante die IV, die damalige INVALIDA zum Ostschweizerischen Regionalzentrum für Behinderten-Eingliederung zu machen.
Neubau im Sömmerli
Für die Übernahme solcher Aufgaben fehlte der Invalida aber der Platz. Bereits 1961 waren erste Rückstellungen für einen Neubau gebildet worden. 1963 wurde ein erstes Projekt erarbeitet. Mit der konkreten Planung für einen Neubau im Sömmerli-Quartier wurde aber erst 1973 begonnen. In Zweijahresschritten ging es dann vorwärts: 1975 Vorprojekt, 1977 Eingabe definitives Bauprojekt, 1979 Baubewilligung und Subventionszusage von 50 Prozent der Baukosten. Am 1. Oktober 1979 erfolgte der Spatenstich, am 23. Dezember 1981 stand der Rohbau, im August 1982 konnten die Werkstätten und der Verwaltungstrakt in Betrieb genommen und im April 1983 das Wohnheim bezogen werden. Das neue Zuhause der INVALIDA kostete etwas über 21 Millionen Franken.
Stetes Wachstum bis zum Jahrtausendende
Der Neubau im Sömmerli bot den notwendigen Platz für das erwartete Wachstum. Im Jahresbericht von 1983 sind folgende Tätigkeiten aufgelistet: Werkstätten mit 91 Beschäftigten für Holzarbeiten, Lohnaufträge (Verpackung, Bereitstellung, Werbesendungen), Metallbearbeitung und Wäscherei sowie das Wohnheim für 72 Behinderte. Bis zum 70. Geburtstag im September 1999 wuchs die INVALIDA stetig und weitete auch ihre Tätigkeiten aus. Es wurden in den Forma-Vitrum-Gebäuden an der St.Josefen-Strasse 2 und 20 rund 1700 m2 zusätzliche Produktionsfläche zu gemietet. 1999 überstieg der Umsatz erstmals die 10-Mio-Franken-Grenze. Die Anzahl der Betreuten betrug 170. Das Dienstleistungsangebot umfasst die Holz- und Metallbearbeitung, Industrie und Montage, Wäscherei, Garten, Hausdienst und Ausbildung.
Vom Heim zum Unternehmen
Der Start ins neue Jahrtausend ist für die INVALIDA mit einem Paradigmenwechsel verbunden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen gibt vor, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nicht mehr nur versorgt und betreut sondern auf den Weg zu Selbstbestimmung gebracht werden sollen. Die Verantwortlichen der INVALIDA giengen über die Bücher und starteten unter dem Slogan «sozial und wirtschaftlich professionell» die innere Erneuerung. 2002 stand dann das neue Leitbild. Danach erfüllte die INVALIDA soziale Aufgaben in den Bereichen Ausbildung Jugendlicher in verschiedenen Berufszweigen, Abklärung und Arbeitstraining, Angebot von geschützten Arbeitsplätzen. Sie kümmerte sich um «Wohnen, Leben und Freizeit» der betreuten Personen. Nach aussen veränderte sich die INVALIDA vom handwerklichen Betrieb zum Industrieunternehmen, das sich nach den Bedürfnissen des Marktes richtet.
Veränderung der Unternehmenskultur
Der Paradigmenwechsel rüttelt die INVALIDA mächtig durch. Die eingeleiteten Veränderungen in der Unternehmenskultur und –organisation benötigten ihre Zeit. Ein neues Qualitätsmanagement-System hilft, die Vorgaben der IV zu erfüllen. Seit 2003 zeugt auch ein neuer Name von der Veränderung. Die betreuten Menschen sind nicht mehr «invalid» (gemäss Duden: arbeits-, dienst-, erwerbsunfähig, nicht zu etwas tüchtig) sondern «valid», also «etwas wert». Aus der INVALIDA wurde die Valida, Lehr-und Arbeitswerkstätte mit Behinderung. Der Wandel stösst auf Anerkennung. Der Kanton erteilt der
Valida 2005 die unbefristete Betriebsbewilligung. In der Folge erworb die Valida die Liegenschaft an der Lehnstrasse 90, wo 2007 als Ersatz für die Produktionsfläche in den Forma-Vitrum-Gebäuden insgesamt 140 Arbeitsplätze, Schulungsräume und ein Personalrestaurant in Betrieb genommen wurden.
Sprung in die «neue Welt»
In den letzten zehn Jahren hat sich die Valida definitiv zum modernen Sozialunternehmen gewandelt. Die Werkstätten wurden erweitert und erneuert, das Wohnhaus und das Verwaltungsgebäude an der Zwyssigstrasse umfassend saniert und den aktuellen Betreuungsstandards angepasst sowie externer Wohnraum für Aussenwohngruppen geschaffen. Heute ist die Valida ein Unternehmen mit 500 Arbeitsplätzen in den leistungsfähigen Produktions- und Dienstleistungsbetrieben der drei Werke und einem vielfältigen Wohnangebot für 90 Menschen mit Unterstützungsbedarf.
Wenn die Valida dieses Jahr ihren 90. Geburtstag mit verschiedenen, übers Jahr verteilten Aktivitäten feiert, tut sie das im Bewusstsein, dass der Sprung in die «neue Welt» gelungen ist. Der ursprüngliche «Verein St.Galler Werkstätten für Mindererwerbsfähige» hat sich definitiv zum modernen Sozialunternehmen mit den drei Bereichen Arbeit & Ausbildung, Wohnen & Freizeit und Produktion & Dienstleistungen entwickelt. Die «Valida Ausgabe 2019» funktioniert aber nicht nur als soziales Unternehmen, sondern hat auch klare Ziele: «Als soziales Unternehmen überwinden wir gesellschaftliche Grenzen. Mit starken Leistungen, von denen Menschen mit Unterstützungsbedarf ebenso profitieren wie unsere Partner in der Wirtschaft, in der Politik und im Sozialwesen.»