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«Diskriminierung vermeiden, pragmatisch entscheiden»

16.12.2020 , Neuigkeiten, Valida Zeitung

Susanne Vincenz-Stauffacher ist selbständige Rechtsanwältin und sitzt für den Kanton St.Gallen im Nationalrat. Zudem ist sie Ombudsfrau Alter und Behinderung für die Kantone St.Gallen, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden. Im Gespräche mit Beda Meier, Direktor der Valida, erklärt sie, weshalb das „Recht auf Arbeit und eine geregelte Tagesstruktur“ für Menschen mit Behinderungen auch in Corona-Zeiten gilt.

Die vom Bundesrat verordneten Massnahmen haben im März 2020 auch die Valida getroffen – allen voran die betreuten Menschen mit Unterstützungsbedarf, aber auch das Team der Betreuerinnen und Betreuer. Von einem Tag auf den anderen galten einschneidende Vorschriften bezüglich Arbeit und Kontakt.

BEDA MEIER
Wir haben in der ersten Corona-Welle erlebt, dass es plötzlich geheissen hat, der Lockdown gelte auch für die Valida als Unternehmen. Das bedeutete, dass alle hätten zu Hause bleiben müssen – die Betreuten wie auch die Mitglieder des Betreuerteams. Dabei bildet der Arbeitsbereich einen wichtigen Pfeiler der Dienstleistungen der Valida für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Eine geordnete Tagesstruktur ist für die Betreuten als Halt und Richtschnur sehr wichtig. Unsere Klientinnen und Klienten hätten also mit einem vollständigen Lockdown nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern auch einen Teil der Betreuung. Wie sehen Sie das als Juristin?

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Gibt es ein Recht auf Arbeit, auf Beschäftigung? Diese Frage stellt sich nicht nur bei Menschen mit Handicap, sondern auch bei Menschen, die nicht im engen Sinn in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Es ist eine grundsätzliche Frage, die sich in dieser aussergewöhnlichen Situation gestellt hat. So ist auch unklar, ob das Zuhausebleiben und die Arbeit im Homeoffice von Seiten der Behörden eine Empfehlung darstellt oder als eine Vorschrift aufzufassen ist. Persönlich bin ich – auch unabhängig von rechtlichen Überlegungen – der Meinung, dass das Recht auf Arbeit und auf eine Tagesstruktur soweit als möglich aufrecht erhalten bleiben muss. Wir dürfen nicht in eine Diskriminierung kippen, nur weil jemand handicapiert ist und man diese Person deshalb automatisch als besonders verletzlich beurteilt. Das Abwägen zwischen dem Schutz einer vulnerablen Person und den persönlichen Freiheitsrechten ist eine Gratwanderung. Ein Bespiel dafür ist das Besuchsverbot von Menschen in Heimen und Institutionen, das ja eigentlich dem Schutz der verletzlichen Person dient. Es führt aber zu ganz schlimmen Situationen. Ich denke da zum Beispiel an demente Menschen, welche nicht verstehen, weshalb sie plötzlich keine Besuche mehr erhalten dürfen. Sie empfinden das als Strafe. Hier stellen sich schnell ethische Fragen. Wie etwa, ob wir die Menschen mit Behinderung nicht zum Teil überbehüten. 

BEDA MEIER
Was raten Sie?

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Ich habe da eine pragmatische Einstellung: Die normalen Tagesabläufe so weit wie möglich beibehalten, so dass man es verantworten kann. Das heisst, dass die Leitungs- und Betreuungspersonen besonders gefordert sind. In meinem Alltag als Ombudsfrau habe ich erlebt, dass die Reaktionen auf die Herausforderungen unheimlich unterschiedlich sein können. Die einen reagieren absolut rigide gemäss den Vorschriften, andere eher pragmatisch. Das rigideste Verhalten einer Leitungsperson, das ich erlebt habe, war der Fall eines Ehepaares. Der Mann war dement und lebte im Heim. Seine Frau brachte ihm täglich einen frischen Blumenstrauss aus ihrem Garten, der ihn an sein früheres Leben als Hobbygärtner erinnerte. Gemäss Vorschrift musste plötzlich alles, was von aussen kam, in Quarantäne. Und so musste auch der Blumenstrauss in Quarantäne … und war einen Tag später verwelkt. Was hier in guten Treuen und gemäss Vorschrift gemacht wurde, ist für mich einfach völlig inadäquat!
Ein anderes Beispiel ist das einer psychisch beeinträchtigten Person, die ins Homeoffice geschickt wurde. Weil ihr zu Hause die gewohnte Tagesstruktur fehlte, verstärkte sich ihre Krankheit. Sie ist jetzt in einem viel schlechteren Zustand, als sie vermutlich je hätte sein können, auch wenn sie sich mit dem Corona-Virus angesteckt hätte.

Die einen reagieren absolut rigide gemäss den Vorschriften, andere eher pragmatisch.

BEDA MEIER
Noch gilt im Moment zum Glück kein zweiter Lockdown. Aber die Aufträge in unseren Betrieben sind zum Teil stark unter Druck geraten. Und vor allem im Freizeitbereich haben wir eine Situation, die viele Aktivitäten verunmöglicht.
 
Von Seiten der Behörden erlebten wir während der erste Welle den Gedankengang „Behinderung – aha – Schutz – aha – Einschränkung“. Wie sind solche diskriminierenden Gedanken möglich?

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Zum Teil ist das wirklich Unwissen über die vielen unterschiedlichen Levels von Behinderung, die es gibt. Es gibt auch zu viele grobe Raster. So zum Beispiel die Meinung, dass alle Personen, die älter als 65 Jahre sind, automatisch vulnerabel seien. Das ist schlicht willkürlich. Eine differenzierte Betrachtung würde dem geltenden Diskriminierungsverbot entsprechen. Das gilt auch für den Schulbereich. Eine Schule in einer ländlichen Gemeinde kann doch nicht behandelt werden wie eine städtische Schule. Alles über einen Leisten zu schlagen, ist nicht zielführend. Diese Differenzierung ist aber auch sehr schwierig. Insofern habe ich auch Verständnis für die Nöte der Behörden, die ja allgemeine Regeln aufstellen müssen und nicht an alle Ausnahmen denken können. So liegt die Verantwortung eben bei den Entscheidern in den Heimen und Institutionen.

BEDA MEIER
Manchmal haperte es auch mit der Kommunikation. So hat die Kantonsärztin anfänglich Weisungen für alle Institutionen mit Betagten erlassen. Wir haben nicht sofort bemerkt, dass die Massnahmen auch für die Valida gelten könnten. Vor allem auch, weil für uns grundsätzlich nicht das Gesundheitsdepartement, sondern das Departement des Innern zuständig ist. Doch mittlerweile hat ein Lernprozess stattgefunden. Wir werden jetzt direkt informiert und haben die Möglichkeit, die Situation differenziert und individuell anzuschauen. Und – ich gebe es zu – wir haben die Vorgaben von Anfang an kreativ und im Sinne unserer Klientinnen und Klienten interpretiert. So haben wir die Arbeit in den Betrieben für Risikopersonen vorübergehend durch Heimarbeit ersetzt oder begonnen, in kleinen Gruppen in Schichten zu arbeiten. Nur die Hygieneregeln setzten wir von Anfang rigide um.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Da möchte ich die Behörden doch etwas in Schutz nehmen. Die Vorgaben des Behindertenrechts sind den Behörden sicher bekannt. Aber wir befanden uns in einer wirklich aussergewöhnlichen Situation und zwar in einem nicht vorstellbaren Ausmass. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Bundesrat via Notrecht geführt hat und die Kantone einfach ausführen mussten. Da ist die Gefahr gross, dass nicht mehr genügend differenziert wird. Deshalb ist es auch gerade in der Geschäftswelt zu teils absurden Situationen gekommen.

BEDA MEIER
Der erste Lockdown ist vorbei. Aktuell haben wir eine andere Situation.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Ja, genau. Die Zuständigkeit liegt jetzt bei den Kantonen. Und für den Kanton St.Gallen kann ich sagen, dass die Behörden auf einem guten Weg sind. Sie delegieren die Verantwortung dorthin, wo der Sachverstand vor Ort vorhanden ist. Das bedingt aber auch, dass dort die Leitungs- und Führungspersonen die Verantwortung übernehmen und nicht nach rigiden Vorgaben rufen. Ich persönlich bin eine grosse Verfechterin des Grundsatzes, dass Entscheide dort gefällt werden sollen, wo das spezifische Wissen und die entsprechende Verantwortung dafür vorhanden ist. Ich habe entsprechend auch ein sehr positives Bild der Führungspersonen – diese können und wollen entscheiden.

BEDA MEIER
Stichwort Führungsperson: Als solche sind wir keine Solisten, sondern Teamplayer. Von oben werden wir von der Trägerschaft unterstützt. Und im Geschäftsleitungsteam von den GL-Kolleginnen und -Kollegen.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Das ist eine Frage der Unternehmenskultur. Die Qualität der Unternehmenskultur zeigt sich in der Krise. Das Vertrauen der Trägerschaft in die operative Ebene ist sehr wichtig. Der Vorstand muss in „guten Zeiten“ die richtigen Leute aussuchen, damit es in der Krise funktioniert. Deshalb ist auch die Zusammensetzung eines Vorstandes oder eines Stiftungsrates entscheidend.

BEDA MEIER
Mit meinem Vorstand bin ich mehr als zufrieden.
 
Susanne Vincenz-Stauffacher
Was mir im Bereich der geschützten Werkstätten besonders wichtig erscheint: Es wird häufig ausgeblendet, dass es hier nicht nur um Arbeit geht, sondern um die sozialen Kontakte bei der Arbeit. Das Werkstattteam ist oft wie ein Kollegenkreis oder eine Familie. Ein Arbeitsverbot ist demnach auch mit einem Kontaktverbot verbunden.
 
BEDA MEIER
Ihre Feststellung gilt auch für die Menschen ohne Unterstützungsbedarf. Auch sie benötigen ihr soziales Berufsumfeld.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Natürlich haben auch die Angestellten beispielsweise in der Valida-Verwaltung ein Bedürfnis nach sozialen Kontakten. Aber sie sind nicht beeinträchtigt und haben deshalb mehr Möglichkeiten den allfälligen Ausfall des Arbeitsumfeldes zu kompensieren. Ihre Situation ist sicher anders als diejenige der Menschen mit Handicap.

BEDA MEIER
Im Lockdown hat sich aber auch gezeigt, dass viele unserer Klientinnen und Klienten unerwartete Talente entwickeln, um das Beste aus der Situation zu machen. So hatten viele der Absolventen der Valida Berufsschule überraschend keine Probleme, dem Fernunterricht digital zu folgen. Der Umgang mit der neuen Situation hing und hängt stark von der Persönlichkeit der Person ab.

Die Kantone delegieren die Verantwortung dorthin, wo der Sachverstand vor Ort vorhanden ist. Das bedingt aber auch, dass die dortigen Leitungs- und Führungspersonen die Verantwortung übernehmen und nicht nach rigiden Vorgaben rufen.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Haben Sie die Krise auch als Chance erlebt?

BEDA MEIER
Die ausserordentliche Corona-Situation hat die ganze Behindertenbranche durcheinander gewirbelt und zu grossen Belastungen geführt. Aber wir haben in der Krise alle auch viel gelernt. So durften wir sehen, dass die betreuten Personen oft mehr Ressourcen haben, als wir angenommen hatten. Ressourcen, welche im Rahmen der Rundumbetreuung unentdeckt bleiben oder vielleicht sogar verloren gehen. Positiv ist auch, dass wir im ganzen Unternehmen neue Kommunikationswege und -mittel entwickeln mussten, die sich über die Coronazeit hinaus bewähren werden.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Und welche finanziellen Wunden lässt Corona bei der Valida zurück?

BEDA MEIER
Das wissen wir noch nicht so genau. Wir stecken noch mitten in der zweiten Welle. Sicher ist, dass die Erträge unserer Werkstätten dieses Jahr um etwa zehn Prozent eingebrochen sind. Hilfreich ist, dass auch Betriebe mit Menschen mit Unterstützungsbedarf ein Anrecht auf Kurzarbeitsentschädigung haben.

SUSANNE VINCENZ-STAUFFACHER
Und wie wird die Valida das finanzielle Loch stopfen?

BEDA MEIER
Die Behörden verweisen auf den so genannten Schwankungsfond, also die gesetzlichen Schwankungsreserven. Diese sind aber eigentlich dafür da, die üblichen konjunkturellen Schwankungen aufzufangen und sind nicht für eine Pandemie gedacht. Die Bestände der Schwankungsfonds werden nicht ausreichen, um die Folgen der Pandemie aufzufangen. Kurzfristig hat die Valida mit einem Investitionsstopp, der Verschiebung von Projekten, der Streichung von Personalentwicklungsmassnahmen und mit einem Personalabbau reagiert.

Notiert: Herbert Bosshart

Zur Person:

Nationalrätin
Susanne Vincenz-Stauffacher studierte an der Universität St. Gallen Rechtswissenschaften und schloss das Studium 1990 mit dem Lizenziat (lic.iur.) ab. Nach Erlangung des Anwaltspatentes gründete Vincenz-Stauffacher 1993 eine eigene Anwaltskanzlei und ist seither in St.Gallen als selbstständige Rechtsanwältin und öffentliche Notarin tätig. Vincenz-Stauffacher war im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit von 2003 bis 2016 Fachrichterin am Versicherungsgericht des Kanton St. Gallen und fungiert seit 2013 als Ombudsfrau Alter und Behinderung Kanton St. Gallen. Seit 2018 ist sie in dieser Position auch für die Kantone Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden zuständig. Zusätzlich ist Vincenz-Stauffacher seit 2016 auch Präsidentin der Opferhilfe St.Gallen und beider Appenzell.
Neben ihren beruflichen Tätigkeiten ist Susanne Vincenz-Stauffacher auch ehrenamtlich engagiert. Von 2005 bis 2014 war sie Präsidentin der Frauenzentrale St. Gallen, dem grössten Dachverband für Frauenanliegen im Kanton St. Gallen. Zusätzlich ist Vincenz-Stauffacher seit Jahren politisch für die FDP im Kanton St. Gallen aktiv. Von 2004 bis 2006 war sie Präsidentin der FDP-Ortspartei Gaiserwald und von 1997 bis 2005 gehörte sie der Parteileitung der FDP-Kantonalpartei an. Von 2000 bis 2005 war Vincenz-Stauffacher Vizepräsidentin der FDP-Kantonalpartei und vertrat diese von 2018 bis 2020 im Kantonsrat des Kantons St. Gallen. 2019 wurde sie in den Nationalrat gewählt. Seit 2020 ist sie Präsidentin der FDP-Frauen Schweiz.
Susanne Vincenz-Stauffacher ist verheiratet, hat zwei Töchter und wohnt in Abtwil.
Quelle: Wikipedia